Ein Kreuz für Fátima
>> Neu: Fatima Website
Das Schwierige ist, der Einfachheit Ausdruck zu geben.
Gespräch zwischen August Heuser und Robert Schad am 27. Februar 2008 in der Kirche St. Stephan in Karlsruhe
Herr Schad, die erste Frage, die ich mir gestellt habe, als ich mich mit Ihrem Kruzifix in Fátima beschäftigt habe war: Wie kommt Robert Schad nach Fátima?
Gute Frage! Nach Fátima kommt man in der Regel als Pilger. Bei mir hatte es andere Gründe: Ich stamme aus einer katholischen Familie, in der die Schilderungen über die Marienerscheinungen in Fátima und Lourdes auf uns Kinder einen großen Eindruck gemacht hat, weil Maria Kindern und nicht Erwachsenen erschienen ist. Zum ersten Mal reiste ich selbst nach Fátima Ende der 70er Jahre im Rahmen einer Reiseleitertätigkeit, mit der ich mir mein Studium finanzierte. Anfang der 80er Jahre habe ich an der Kunsthochschule Porto studiert und habe mich sofort in diese Stadt und in den Norden Portugals verliebt, aber Fátima war für mich noch kein besonderer Anlaufpunkt.
Ein wenig später kaufte ich mir für den bescheidenen Betrag, den mir ein Kunstpreis des nordportugiesischen Vila Nova de Cerveira einbrachte, eine kleine Wassermühle, die ich restaurierte, um darin zu wohnen. Seitdem verbringen wir regelmäßig einige Wochen im Jahr in Nordportugal. Dies führte jedoch nicht dazu, dass ich in den Kreis jener Künstler aufgenommen wurde, der für die neue Kirche in Fátima tätig werden sollte. Der griechische Architekt Alexandros Tombazis fragte mich vor ungefähr drei Jahren, ob ich im Rahmen seines Neubauprojektes der Kirche „Santissima Trindade“ in Fátima einen künstlerischen Beitrag leisten wollte. Er hatte zuvor meine Arbeit in einer Exhibition in Paris gesehen.
Da zeichnet sich fast ein europäisches Kreuz ab zwischen Ravensburg, Ihrem Geburtsort und Fátima und Paris…
…und Athen, der Stadt aus der Alexandros Tombazis kommt. Er hat sich wesentlich für die Realisierung der Kunstbeiträge eingesetzt: Tatsächlich vermittelt das neue Pilgerzentrum in Fátima auch ästhetisch einen Gedanken, der weit über Portugal hinausstrahlt und Kunstschaffende aus ganz Europa zusammengeführt hat: Den griechischen Architekten und seinen portugiesischen Kollegen Álvaro Siza-Vieira, der ein über 20 Meter breites Kachelgemälde für das Tiefgeschoss der Kirchenanlage geschaffen hat. Der Maler Pedro Calapez aus Lissabon gestaltete das große Haupttor der Kirche, Joe Kelly aus Kanada die gläsernen Eingangsflügel, Ivan Rupnik aus Slowenien und Catherine Green aus Irland den Chorraum. Czeslaw Dzwigaj aus Polen und Benedetto Pietrogrande aus Italien schließlich schufen monumentale Einzelskulpturen. Mein Kruzifix ist also Teil eines internationalen ästhetischen Konzepts.
Aber verbindet Sie etwas mit der Frömmigkeit in Fátima? Was interessiert Sie an der Frömmigkeit und dem Glauben der Menschen in Fátima?
Fátima ist ein Wallfahrtsort, der gerne von portugiesischen Bauern und Handwerkern besucht wird. Und deren gelebte Religiosität hat nichts mit einem elitären Charakter eines Wallfahrtsortes zu tun. Fátima ist ein Hauptort ihrer religiösen und kulturellen Identität, an dem sie sich geborgen und zu Hause fühlen. Dies hat man auch am Eröffnungsabend der neuen Kirche am 13. Oktober 2007 spüren können: Zigtausende haben die Nacht über auf dem Platz verbracht, dort gefeiert, gesungen, gegessen und geschlafen und wir waren mittendrin. Es war wie ein gigantisches Volksfest.
Das heißt, dass Ihr Kreuz auch oder gerade für diese Menschen gemacht ist?
Selbstverständlich. Ich habe dieses Kreuz mit Sicherheit für diese Menschen gestaltet, aber nicht nur für Portugiesen. Es sollte ein Zeichen entstehen, das in seiner Form möglichst einfach ist, interkulturellen Anspruch erhebt und sich nicht in realistischen Details verliert. Das Schwierige ist ja, der Einfachheit Ausdruck zu geben. Etwas auf den Punkt zu bringen, indem es so und nicht anders sein kann, ist besonders in dieser Riesendimension auch im architektonischen und räumlichen Kontext eine schwierige Aufgabe. Ich empfand es einerseits wie eine Art künstlerisches Spiel mit dem Ort, anderseits aber auch als profunden Dialog mit dem Architekten.
Ihr Kruzifix steht neben der großen, neuen Kirche in Fátima. Stahl gegen Stein, Horizontale gegen Vertikale, Linie gegen Raum. Wie sind Sie mit der vorgegebenen Architektur und der Anlage des Platzes umgegangen?
Die Architektur hat, trotz ihrer Einfachheit und Askese, Eigenschaften, die ja auch die Form meines Kreuzes kennzeichnet. Interessant an dieser Architektur ist unter anderem, wie die Menschen ins Kircheninnere geleitet werden. Ein mächtiges Bogenpaar führt zum großen Hauptportal, das direkt den Zugang zur offenen Licht durchfluteten Kirchenhalle, die fast 10.000 Gläubige aufnimmt, eröffnet. Nichts erinnert an den düsteren Raumcharakter iberischer Kircheninterieurs mit ihrer mystischen Lichtinszenierung. Statt dessen ein ungewöhnlich heller, fast metaphysischer Raum, der einen statt zum Bußgebet zur Meditation über das Geheimnis von Fátima einlädt. Der sich vor dem Eingang bündelnde axiale Blick auf den Altar weitet sich und löst sich beim Betreten auf. Der äußeren Geschlossenheit des Baukörpers (das Gebäude hat keine Fenster) folgt die lichte Helligkeit des Inneren. Aus der Ferne mag das Gebäude als Scheibe empfunden werden. Es drängt sich nicht auf, dass es sich um einen Kirchenbau handelt. Ein Kirchturm fehlt gänzlich. Hier ist das Kruzifix in seiner Dimension und Materialität Formpartner von Architektur und Signet für die Nutzung des Gebäudes: Der steinernen vertikal ausladenden Wuchtigkeit des Gebäudes steht das filigran aufstrebende Stahlkruzifix dialogisch gegenüber. Beide, Kirchenbau und Kruzifix, bedingen sich gegenseitig und bilden trotz ihrer großen formalen Unterschiedlichkeit eine ästhetische Einheit.
Mit diesem Kruzifix stehen Sie natürlich in einer langen Reihe in der Geschichte der Kunst, aber auch in einer Geschichte der Spiritualität und der Frömmigkeit. Was hat Sie bewegt, als Sie sich aufgemacht haben, irgendwann am Zeichentisch erste Ideen zu einem Kruzifix zu formulieren? Was macht ein Künstler bei all den Möglichkeiten, die man sich zwischen den frühchristlichen Kreuzen in den Katakomben bis zu Joseph Beuys denken kann?
Ja, es war nicht einfach, zu dieser Form zu finden. Es gibt ja den typischen Kirchenbildhauer, der sich auf bekannte Formgewohnheiten bezieht, wenn er ein Kruzifix gestaltet. Die traditionellen Vorgaben für christliche Darstellungen lassen dem Künstler in der Regel wenige Freiheiten. In den Kreuzigungsdarstellungen jeder Zeit spiegeln sich gesellschaftliche Zustände und die Rolle der katholischen Kirche und des Glaubens über Jahrhunderte hinweg. Ich habe mich intensiv mit der christlichen Kunst, besonders mit der des Mittelalters auseinandergesetzt. Zu Beginn der Kreuzigungsdarstellungen im 6. Jahrhundert wurde über antike Vorbilder römischer Götter der bartlose Christus dargestellt, in der Frühromanik setzte sich der hieratische, schmerzensfreie Typus durch. Dann in der Zeit der großen Pestepidemien im 14. Jahrhundert wichen die jenseitig verklärten den drastisch realistischen Wiedergaben, mit denen sich die Menschen in ihrem Leid identifizieren konnten. In der Renaissance galt das Interesse dann der Darstellung des nackten menschlichen Körpers als Sinnbild des Idealen und der Suche nach dem schönen, beseelten Menschen. Nach den hyperrealistischen und ekstatisch übersteigerten Kreuzigungsdarstellungen des Manierismus führte der Barock dem Betrachter theatralisch das Passionsszenario vor. Im 18. und 19. Jahrhundert brachten die Künstler hinsichtlich dieses Themas wenig Neues hervor. Religion wurde zur Privatsache. Im 20. Jahrhundert verlor die Kirche dann endgültig ihre Bedeutung als zentrale Auftraggeberin für die Künste. Über die Betrachtung der Kunstgeschichte stellte sich mir die Frage, wie kann und soll ein Kruzifix heute aussehen. Ein Kruzifix kann nicht nur ein Symbol der westlichen Welt sein angesichts der Tatsache, dass die meisten Christen gar nicht in Europa, sondern in Afrika und Südamerika leben. So lag es nahe, sich mit christlichen Darstellungen der missionierten Völker Afrikas und Südamerikas zu befassen. Die Expressivität in der Einfachheit, wie sie in der afrikanischen Kunst vorkommt, bestätigte mich darin, auf realistische Details in der Darstellung des Körpers zu verzichten. Diese künstlerischen Freiheiten ermutigten mich, über gängige Formdogmen christlicher Kunst hinwegzusehen. Ich glaube, dass es an einem Ort wie Fátima, der für Christen der ganzen Welt von Bedeutung ist, wichtig ist, ein globales Zeichen zu setzen und eine Art Konzentrat zu schaffen als Resultat geschichtlicher Reflexionen und kunsthistorischer Studien, das die unterschiedlichen positiven wie negativen Erfahrungen des Einzelnen reflektiert und auf den Punkt bringt. Ganz persönliche unterschiedliche und ambivalente Darstellungsmöglichkeiten sollen evoziert werden, dies sehe ich als meine Verantwortung als Künstler an diesem Ort. Es soll ein Kreuz sein aus unserer Zeit in unsere Zeit hinein. Es soll nicht dekorieren und kommentieren, sondern einen Ort prägen, an dem das Sehen und Denken herausgefordert wird.
Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie mit und in Ihrem Kruzifix zu einer globalen Bildsprache gefunden. Aber genügt das, um das Kruzifix in seiner Aussage auf die Höhe unserer Zeit zu bringen?
Also ich glaube, das Heutige in Fátima in Bezug auf mein Kruzifix und die gesamte Architektur ist zuerst einmal das Zusammenwirken aktueller Künste mit der Kirche in einer Form, wie ich sie in unserer Zeit in diesem Umfang nirgendwo in dem Maße festgestellt habe. Die direkte Zusammenarbeit zwischen Auftraggeber, Architekt und Künstler, die Voraussetzung dafür ist, dass ein derartiges Gesamtkunstwerk entstehen kann, verlief nahezu ideal. Die Sprache der entstandenen Kunst und Architektur in Fátima ist trotz aller Aktualität zeitlos, weswegen ich mir sicher bin, dass sie auch von Menschen späterer Generationen geschätzt und verstanden werden kann. Die bewusste Beschränkung von Kunst und Architektur auf das Existenzielle und Essenzielle, auch Asketische, ist meiner Ansicht nach etwas, was einer Welt der Reizüberflutung einen Gegenpol entgegensetzen kann.
Was aber ist das Zeitgemäße, das Heutige an Ihrem Kruzifix? Da fällt dem Betrachter und der Betrachterin des Kreuzes schnell das Material auf, der Stahl, der ein Zeichen unserer Zeit ist.
Stahl ist keine Erfindung unserer Zeit, man denke an die großen Stahlskelettbauten des 19. Jahrhunderts. Diesem Material eine humane Aussage zu geben, ist nicht einfach. Ich versuche jedoch dem Material eine Sprache zu geben, die den Stahl vergessen lässt. Man kann ein so hohes Kreuz aus statischen Gründen nur aus Stahl bauen. Wir mussten statische Berechnungen erstellen, die die Standfestigkeit auch bei großem Windaufkommen und Erdbeben garantieren. Das Kreuz hat eine gigantische Höhe und ist meines Wissens das höchste Kruzifix auf der Welt. Stahl erhält durch die Oxidierung einen sehr natürlichen Oberflächencharakter. Stahl darf altern, wie ein Mensch altert. Davon musste ich die kirchlichen Auftragsgeber erst einmal überzeugen, die eine schwarzblaue beschichtete Oberfläche bevorzugten. Rost ist etwas Lebendiges. Bei trockenem Klima hat die Skulptur eine leuchtend rotbraune Farbe, bei Regen und Feuchtigkeit ist sie fast schwarz. Zudem ist die Skulptur aus dickwandigem Cortenstahl, dessen Rostschicht das Material schützt. Durchrosten ist absolut ausgeschlossen.
Stahl ist ein Material, das Ihrem gesamten künstlerischen Werk zugrunde liegt. Er ist die Konstante Ihrer Arbeit. Eine weniger große Konstante bildet die Form. Wie sind Sie zu der Form des Christuscorpus auf Ihrem Kreuz gekommen?
Bei der Betrachtung historischer Kruzifixe kann immer wieder festgestellt werden, dass Kreuz und Körper eins sind. Ich hatte ursprünglich nach formalen Lösungen gesucht, die auf das Kreuz verzichten und nur den Körper zeigen, um den leidenden Körper mit dem Kreuz eins werden zu lassen. Dies wirft eine inhaltliche Frage auf: Wenn der Körper selbst das Kreuz ist, geht es um die seelische und körperliche Befindlichkeit, die einem zum Kreuz werden kann. Eine derartige Form hätte das religiöse Weltbild der Wallfahrer wahrscheinlich zu sehr durcheinander gebracht. Für die Kirche zu arbeiten ist anders als für weltliche Auftraggeber. Der Künstler muss seine Freiheiten gegen ikonografische und liturgische Rahmenbedingungen durchsetzen. Das aber ist mir in diesem Fall nicht gelungen. Es entstand also ein Kruzifix, bei dem das Kreuz zwar vorhanden ist, jedoch nicht nur als bloßer Support des Körpers dient, sondern wegen der konstanten Materialwahl eins mit ihm wird, mit ihm verschmilzt.
Wie reagieren aber Ihre Kollegen darauf, dass Sie so etwas machen?
Wenn man für die Kirche arbeitet, wird man doch schnell in die Schublade der angewandten Kunst gesteckt. Da haben Sie ganz recht und mir ist das auch passiert. Ich habe meine Entwürfe einigen Kollegen und befreundeten Kunsthistorikern gezeigt und erlebte von frenetischer Begeisterung bis abgrundtiefer Ablehnung ganz unterschiedliche Reaktionen. Für mich war die Auseinandersetzung mit dem Sujet entscheidend, das über Jahrhunderte die Kunstgeschichte begleitet hat, um ein Zeichen unserer Zeit zu setzen. Dabei war mir wichtig, dass ich meiner künstlerischen Sprache, die ich in den letzten Jahrzehnten entwickelt habe, treu bleibe.
Sie hätten sich aber auch verweigern können. Warum haben Sie anders als vielleicht viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen den Auftrag angenommen?
Eine wichtige Aufgabe des Künstlers ist, Fragen zu stellen, über die diskutiert wird. Ein gutes Kunstwerk lässt vielfältige Antworten zu und behält, solange es zum Denken anregt, seine Wirkung. Zu einem Kruzifix hat jeder Mensch sein ganz spezielles Verhältnis. Für den einen ist es Anbetungsgegenstand, der in Kirchen und Privathäusern seinen Platz findet, bei Prozessionen über Felder, Wiesen und durch Städte bzw. als Zeichen oder Talisman um den Hals getragen wird. Andere empfinden es als Bedrohung. Deshalb ist es ein ganz eigenes Erlebnis, ein so großes Kruzifix für diesen Platz zu gestalten, der ein zentraler Ort der Christenheit ist.
Ich möchte nicht indiskret sein, gestatten Sie mir aber die Frage, aus welcher persönlichen Quelle oder aus welchem persönlichen Lebenszeichen jenseits künstlerischer Überlegungen speist sich für Sie dieses „ganz eigene Erlebnis“, von dem Sie gerade gesprochen haben?
Es ist diese symbolisch aufgeladene Kruzifixform, die einen bei der Arbeit auf eine ganz andere Art und Weise einnimmt und herausfordert als bei der Erstellung einer freien Skulptur, da in das Kreuz Millionen von Menschen ihre Wünsche, Hoffnungen und Ängste projizieren. Mir ging in der Planungsphase immer wieder die Frage im Kopf herum, ob man dem einfachen Gläubigen eine derartige Form, wie ich sie vorschlug, überhaupt zumuten kann. Zudem fragte ich mich, wieso gerade ich, der bislang noch nie für die Kirche gearbeitet hat, das große Hauptkreuz für Fátima machen sollte. Mein Geburtstagsdatum, das mit dem Gedenktag der Geburt Christi zusammenfällt, hat mich stutzig gemacht und angeregt, nach eventuellen weiteren Zahlenkoinzidenzen zu suchen. Dabei stieß ich auf die Tatsache, dass die Quersumme meines Geburtstags (24. 12. 1953) mit der des ersten Erscheinungstags (13. 5. 1917) identisch ist. Dies kann natürlich reiner Zufall sein.
Betrachter sind immer auch neugierig darauf, was denn der Künstler eigentlich meint, wie denn seine Haltung zu seinem Kunstwerk ist.
Ich möchte die Assoziationsbreite über mein Kruzifix so offen halten, wie es angesichts der Thematik nur irgend möglich ist. Sich mit dem Kruzifix zu befassen, bedeutet aber auch eine Auseinandersetzung mit den eigenen kulturellen Wurzeln, und diese führe ich mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln. Meine Arbeit ist antipodisch angelegt. In ihr stehen sich konstruktive Starre und Lebendigkeit, das optisch Leichte und das physisch Schwere gegenüber. Meine Arbeit stellt die permanente Suche nach Überwindung dieser scheinbaren Gegensätze dar. Meinen Arbeiten sieht man das enorme Gewicht nicht an. Das gilt auch für mein Fátima-Kruzifix.
Was verbindet Sie mit dem Kreuz und in welchem Zusammenhang steht es mit Ihrem Leben? Welche Vorstellung haben Sie in diesem Kruzifix entwickelt?
Es ist einerseits aus der Kunstgeschichte abgeleitet, andererseits aus dem, was ich aus meiner ganzen Erfahrung seit meiner Kindheit kenne. Ich bin römisch-katholisch getauft worden und habe sehr unterschiedliche Erfahrungen mit der Kirche gemacht. Meine kindliche Religiosität wurde geprägt von einem Benediktinerpfarrer, der sich sehr um unser Seelenheil kümmerte und eine sehr väterliche und charismatische Persönlichkeit war. In den Folgejahren prägten zunehmend Zweifel und Skepsis mein Verhältnis zur katholischen Kirche wegen ihrer zwiespältigen Rolle besonders während der Kolonialkriege und dem Faschismus des 20. Jahrhunderts. Dazu kam die Beschäftigung mit anderen Religionen – insbesondere dem Buddhismus -, die mein Weltbild öffneten. Die erneute aktuelle Auseinandersetzung mit dem Kruzifix bedeutet für mich persönlich eine Art Bestandsaufnahme meiner Einstellung zur katholischen Kirche, die ja seit einigen Jahren mehr und mehr dabei ist, sich in einer unserer Zeit angemessenen Art in gesellschaftliche, kulturelle und weltpolitische Diskurse zum Wohle der Menschen einzumischen.
Sie haben gesagt, Ihre künstlerische Arbeit sei die permanente Suche nach der Überwindung von scheinbaren Gegensätzen. Was meinen Sie damit?
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass es mir unter anderem darum geht, in meinem Kruzifix physische Tonnenschwere durch scheinbare Leichtigkeit zu überwinden. Stählerne konstruierte Starre soll dem Eindruck lebendiger Bewegung weichen. Über den rohen und kalten Stahl werden Inhalte vermittelt, die hinter dem liegen, was vom Auge wahrgenommen wird. Auf diese Art kann mein Kruzifix als Mahnmal für jegliche Überwindung von Gegensätzen im Denken und Handeln sein. Die kirchlichen Auftraggeber in Fátima haben dies sicherlich auf ihre Weise getan: Sie haben gewagt, mit dem Bau der monumentalen Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit und seinem Kruzifix dem Marienkult ein Gegengewicht entgegenzusetzen. In Portugal haben Marienstatuen im privaten und öffentlichen Raum deutlich Priorität vor dem Kruzifix. Und mit der Ästhetik der neu gestalteten Pilgeranlage wurden selbstbewusst neue Wege in die Zukunft aufgezeigt. Fátima kann als Einladung verstanden werden, diesem Weg zu folgen.
Wie lange hat die Entwicklung des Projektes von der ersten Kontaktaufnahme des Architekten bis zur Aufstellung des Kruzifixes gedauert?
Die Anfrage von Alexandros Tombazis erhielt ich Ende 2005. Im Jahr 2006 fanden die ersten Begegnungen in Fátima und darauf folgend die Projektvorbereitungen statt. 2007 wurde das Kruzifix dann in einem großen Stahlbaubetrieb in der Nähe Portos hergestellt. Der Aufbau erfolgte dann im August 2007. In vier Teilen wurde das Kreuz nach Fátima gebracht, wo es in wenigen Tagen zusammengebaut und aufgestellt wurde. Das Erscheinungsbild war vorher schwer einzuschätzen. Der Vorschlag meines Statikers, das Kreuz von 28 auf 34 Meter zu erhöhen, kam der Präsenz des Kruzifixes und seiner Gewichtung dem Kirchengebäude gegenüber zugute. Es bildet mit der Erscheinungskapelle eine Diagonalachse in der ansonsten achsensymmetrischen Platzanlage mit ihren Kirchenbauten. Die Fernwirkung des Kruzifixes überraschte alle, die an der Aufstellung mitgearbeitet haben. Wenn man sich über die Schnellstraße dem Wallfahrtszentrum nähert, ist es bereits über den Dächern der Stadt zu sehen. Jetzt, wo das Kruzifix steht, habe ich das Gefühl, es hat sich nach all der Zeit, die wir daran geplant und gebaut haben, von mir „abgenabelt“. Das Fatima-Kruzifix ist eine öffentliche Form geworden, die nicht mehr nur mir gehört, sondern übergeben worden ist an Menschen, die es zunehmend geistig in Besitz nehmen. Ob es seine Aufgabe in der von mir gewünschten Weise erfüllen und sich einen festen Platz in den Herzen der Menschen erobern kann, wird die Zukunft zeigen.